Der Damm
Samson
Das Wasser donnert so mächtig durch die Überläufe des Damms, dass die Vibration durch die abgetragenen Sohlen seiner Stiefel kriecht. Er deaktiviert den digitalen Zoom seiner Linse, der die fernen Dörfer als pixelige, zitternde Schemata darstellt, und hebt das alte Fernglas. Optik lügt nicht. Von hier oben sehen die Siedlungen entlang des Flusses aus wie Spielzeughäuschen, ahnungslos von der schwebenden Bedrohung des Wassers. Wie es wohl aussähe, wenn die Mauer bräche? Die Urgewalt des Wassers, mitgerissene Trümmer, eine Flutwelle, die eine Schneise durch das Tal fräst. Es würde niemand bleiben, dem er noch helfen könnte.
Schritte knirschen hinter ihm. »Sonnenschein!« Reischs kratzige Stimme. »Lagebesprechung. Jetzt.«
Samson nickt, lässt das Fernglas mit einem dumpfen Aufprall an den Riemen auf seine Brust fallen. Er stapft Reisch hinterher, vorbei an den gespannten Leinen der olivgrünen Zelte, zum Kommandozelt in der Mitte des Lagers.
Aus dem nahen Sanitätszelt dringt der schrille Piepton eines Wasser-Timers, gefolgt von einem unterdrückten Fluch. Schon wieder einer, der seine vier Minuten nicht im Griff hat. Man ist schon ein wenig versucht, sich einfach mit einem Stück Seife in den Stausee zu werfen…
Seine Stiefel sinken leicht in den aufgeweichten Boden, der bei jedem Schritt leise schmatzt. Der Geruch von feuchter Erde mischt sich mit dem von Segeltuch, Schweiß und dem beißenden Dunst der Dieselgeneratoren.
Er bückt sich hinter Reisch unter der schweren Plane hindurch.
Im Zelt schlägt ihm die dicke Luft entgegen, riecht nach feuchtem Stoff und Anspannung. Monsanto steht mit dem Rücken zu ihm vor einem großen, physischen Modell des Tals, das den Damm und die umliegenden Dörfer detailgetreu abbildet. Grauer Kunststoff, darüber das AR- Overlay der langsam pulsierenden blauen Punkte, der Herzschläge seiner Kameraden. Monsanto bewegt den Finger und gibt das Overlay seiner Linse für die Anwesenden Offiziere frei – rote Symbole für feindliche Aktivitäten, blaue Linien für eigene Patrouillenrouten. Ein Werkzeug der Macht, das ihm, einem einfachen Sanitäter, normalerweise verwehrt bleibt. Hauptmann Gruber und Oberfeldwebel Krahn flankieren Monsanto, ebenfalls in das Modell vertieft.
Auf der anderen Tischseite sitzen alle drei zivilen Techniker; Ihre Anwesenheit bedeutet meistens, dass es tatsächlich neue Informationen gibt. Die Führungsebene des kleinen Außenpostens ist fast vollständig versammelt, nur Friedrich fehlt. Ein flüchtiger Stich der Enttäuschung. Friedrichs ruhige, pragmatische Stimme würde ihm jetzt helfen, einen klaren Kopf zu bewahren.
»Die Lage ist folgende.« Monsanto spricht, ohne sich umzuwenden, die Stimme hart. »Wir haben achtundzwanzig Tage, um den Damm einzunehmen.« Er tippt mit einem schwieligen Finger auf einen Punkt auf dem Plastikmodell. »Bis dahin werden unsere Jungs von der Hauptstreitmacht diesen Flussabschnitt erreichen. Und wir werden dafür sorgen, dass sie sicher passieren können.« Eine kurze Pause, sein Blick streift langsam über die Anwesenden. »Und das bedeutet, wir übernehmen die Kontrolle über die Wasserressourcen dieses Tals – dauerhaft. Die RVA hat hier lange genug auf Kosten der Föderation und unter Missachtung zentraler Direktiven gewirtschaftet. Ihre sogenannte Autonomie endet hier.«
Die Anspannung im Raum legt sich wie ein Gewicht auf seine Schultern. Achtundzwanzig Tage. Dreißig ISD-Leute hier im Lager, gegen eine unbekannte Anzahl RVA-Kämpfer drüben im Kontrollraum des Damms.
»Ein Ausweichen der Truppen würde einen Umweg von zweihundert Kilometern und eine massive Verzögerung bedeuten.«
»Oberstleutnant.« Grubers schleppender Bass unterbricht. »Mit Verlaub, aber warum jagen wir das Ding nicht einfach hoch? Achtundzwanzig Tage sind ’ne Menge Zeit für das Wasser, um abzufließen, und dann kann uns auch egal sein, wie viele Ratten sich da drinnen verschanzen.«
Unzufriedenes Schnauben kommt aus der Ecke der Techniker.
Samson schüttelt abwehrend den Kopf. »Das würde unzählige zivile Opfer kosten. Wir sind hier, um Infrastruktur zu kontrollieren, nicht um sie zu zerstören.« Die Bilder der Spielzeughäuschen sind noch präsent.
»Und woher nehmen Sie die Versorgung für ein Heer, wenn Sie zuvor die gesamte Ernte eines Landstrichs vernichten?«, ergänzt Krahn säuerlich.
Monsanto schüttelt knapp den Kopf. »Die RVA erhält bereits Unterstützung aus den umliegenden Gebieten. Unsere Aufklärungsdrohnen haben wiederholte, unautorisierte Lieferungen bestätigt, und die abgefangenen Funkprotokolle zeichnen das gleiche Bild. Seit wir die Wasserzuteilung zentralisiert und die alten Nutzungsrechte kassiert haben, sehen sie uns als Besatzer, nicht als Befreier. Wir können es uns nicht leisten, sie durch eine unnötige Zerstörung endgültig gegen uns aufzubringen. Jeder Bauer, dessen Ernte wir vernichten, ist morgen ein neuer RVA-Rekrut. Es ist zu riskant, die Truppen vor einem terroristisch kontrollierten Damm vorbeiziehen zu lassen. Aber es wurde angeordnet, dass die Sprengung nur die allerletzte Maßnahme sein darf. Was bedeutet, nur im Falle eines Scheiterns.« Er wendet sich ihnen zu, der Blick eisig. »Und ich scheitere nicht. Wir schließen die Schleusen, sichern den Übergang und halten die Anlage intakt.«
Ein kurzes, angespanntes Schweigen. Keine Flutwelle. Vorerst. Samson atmet vorsichtig auf.
»Wie Sie wissen, hat die RVA sich im Hauptkontrollraum verschanzt.« Monsanto fährt mit dem Finger über einen zentralen Bereich innerhalb der Dammskizze auf dem Modell. »Sie haben eine eigene Energieversorgung und eine verstärkte Stahltür. Wir hätten die Mittel, sie zu knacken, aber das würde uns direkt in ihre Angriffslinie bringen. Und ich verschwende nicht die Leben guter Männer, denn es nützt uns nichts, nur die verdammte Tür zu öffnen. Am wichtigsten für uns ist der Code.«
Technikerin Schäffler erhebt sich, ihre Unterlagen rascheln. »Das Kontrollterminal ist passwortgeschützt. Die RVA hat das Passwort, wir haben schon mehrfach beobachtet, wie sie die Durchstrommenge verändert haben. Damit wir das nach erfolgreicher Übernahme auch können, brauchen wir den Code.« Ein Seitenblick zu Gruber. Dann betont langsam, als spräche sie mit einem Kleinkind: »Damit wir das Wasser abstellen und unseren Kameraden die Überquerung ermöglichen können.« Sie setzt sich wieder.
Samson blickt auf den Boden. Eine gründliche Erklärung schadet doch keinem…
»Und diesen Code beschaffen wir wie, Herr Oberstleutnant?« Grubers Augen blitzen kurz auf, ein Anflug von Gier nach Aktion.
»Es gibt da eine Entwicklung.« Ein Anflug von Zufriedenheit gleitet über Monsantos Züge. »Krahn, Sie haben die Ehre.« Er tritt einen Schritt zur Seite und gibt den Platz für Oberfeldwebel Krahn frei.
»Unsere Morgenpatrouille hat einen Überraschungsfund gemacht«, sagt Krahn, seine Laune auffallend gut.
Monsanto steigt in sein triumphierendes Grinsen ein. »Wir haben heute Morgen einen Gefangenen gemacht.«
Oh. Große Neuigkeiten. Samson richtet sich noch gerader auf, sein Blick fliegt zwischen den Anwesenden hin und her. Wer weiß von was? Krahn scheint derjenige gewesen zu sein, dessen Patrouille den Widerständler aufgegriffen hat. Während seine beiden Techniker-Kollegen unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschen, bleibt Nau vollkommen ruhig sitzen, die Hände gefaltet im Schoß. Der Staudruck-Experte war heute Morgen mit im Damm – was auch bedeutet…
»Devamoor wurde außerhalb des Kontrollraums gefasst, als er versuchte, zum Wasserreservoir zu gelangen.« Monsanto blickt Samson direkt in die Augen. »Der Name sollte Ihnen allen bekannt sein.«
»Jawohl.« Er sieht die Akte noch vor sich. Valeri Devamoor. Das schwarze Schaf.
Monsanto wendet sich an die zivilen Techniker. »Der übergelaufene Devamoor-Sohn. Inzwischen ein ganz hohes Tier, einer ihrer führenden Strategen. Ein Künstler, sagen die Berichte. Unberechenbar.« Monsantos Augen flammen auf, als er über den Gefangenen spricht, als würde der Name eine tiefe, schwelende Glut entfachen.
Wow. Valeri Devamoor. Warum schleicht ausgerechnet so ein hochrangiger RVA-Mann durch die Gänge eines Dammes mit regelmäßigen feindlichen Patrouillen, statt sicher bei seinen Leuten im Kontrollraum zu bleiben?
Reisch räuspert sich, sieht Krahn an. »Sicher, dass es keine Sabotagemission war, Kamerad?«
Monsanto winkt an Krahns Stelle ab. »Ist geprüft, der Damm ist sauber. Ich dachte auch nicht, dass ich das mal zu Ihnen sagen würde, Reisch, aber Sie interpretieren zu viel hinein. Er ist total abgemagert. War kein Zuckerschlecken da drinnen.« Sein Mitleid hält sich sichtlich in Grenzen.
Sicher, es war ihre eigene Entscheidung, sich dort zu verschanzen, aber trotzdem. Welche Wahl hat man manchmal schon?
»Erlaubnis, den Gefangenen zu untersuchen, Herr Oberstleutnant?«, fragt Samson.
Monsanto nickt. »Ihre medizinische Ausbildung macht Sie zur idealen Person für die Betreuung des Gefangenen. Stellen Sie sicher, dass er vernehmungsfähig bleibt.«
Ein kalter Schauer rinnt über seinen Rücken. Das war nicht das, was er bezwecken wollte.
Monsanto tritt einen Schritt näher. »Und Sie werden ihn verhören. Bringen Sie ihn dazu, uns den Zugangscode für das Kontrollterminal zu geben und seine Leute zur Aufgabe zu bewegen.«
Samsons Magen plumpst in seine Kniekehlen. »Herr Oberstleutnant, ich bin Sanitäter, kein Verhörspezialist. Wäre nicht Oberfeldwebel Krahn geeigneter…« Ein widerlicher Befehl. Aber ein langer, blutiger Kampf um den Damm, noch mehr von RVA-Minen zerfetzte Soldaten, ist es auch. Ein schneller Informationsgewinn würde diesen Krieg verkürzen, letztendlich Leben retten.
Monsanto mustert ihn abschätzend. »Ihre… sanfte Art könnte von Vorteil sein. Sie haben einen Draht zu Menschen. Nutzen Sie ihn. Manchmal ist Zuckerbrot effektiver als die Peitsche.« Sein starrer Blick ruht auf Samson, als würde er ein neues Werkzeug auf seine Belastbarkeit prüfen. »Zumindest am Anfang.«
Sanfte Art. Er schluckt schwer. Devamoor ist kein Dummkopf. Hoffentlich reicht Reden. »Jawohl.« Das Wort kratzt im Hals.
»Gut.« Monsanto wendet sich ab, ein Zeichen, dass die Besprechung beendet ist. »Schäffler, Svoboda, Nau, Sie sind entlassen. Reisch, Gruber, Krahn, Einsatzdetails folgen. Hauptfeldwebel, folgen Sie mir.«
Als die anderen das Zelt verlassen, hält Monsanto Samson mit einer knappen Handbewegung zurück. »Noch etwas, Sonnenschein.« Seine Stimme ist nun leiser, fast vertraulich. »Devamoor ist hochintelligent und manipulativ. Lassen Sie sich nicht einwickeln. Er ist der Feind. Vergessen Sie das nie.«
»Danke für die Warnung.« Die Dienstpistole an seiner Hüfte ist schwerer als sonst. Ein Sanitäter für so ein Verhör. Und diese Warnung jetzt. Monsanto spielt irgendein Spiel. Kälte kriecht ihm den Nacken hoch.
Monsanto nickt ihm zu und geht mit schnellen Schritten hinaus.
Draußen peitscht ihm Sprühregen ins Gesicht, oder vielleicht ist es nur Gischt, die der Wind vom Damm herüber trägt. Sein Rauschen scheint lauter, ein unaufhörliches Mahnen an die Gewalt des Wassers, die hier gebändigt ist – und die jederzeit entfesselt werden kann. Er atmet tief durch, der Geruch von nassem Gras und erdigem, feuchtem Zeltstoff füllt seine Lungen. Er folgt Monsanto zum Besucherzelt am Rand des Lagers. Jeder Schritt in dem nachgiebigen Boden ist ein tieferes Einsinken in den Schlamm.
Ein Standard-Mannschaftszelt, nur etwas abseits der anderen gelegen. Zwei Wachen stehen davor. Sie salutieren zackig vor Monsanto, ihre Haltung lockert sich jedoch merklich, als Samson einen Augenblick vor dem Zelteingang innehält.
»Morgen, Sattler. Ludin. Ist das Knie besser?«
»Morgen, Herr Hauptfeldwebel. Hat gut geholfen, danke.« Der andere grüßt eine Spur zu eifrig zurück.
»Alles ruhig mit dem Gast?« Samson hält seine Stimme leise.
»Still wie ein Grab. Hat sich nicht gerührt. Wasser steht bereit, falls er was braucht. Befehl ist, ihm zu geben, was er verlangt, solange es nur Grundbedürfnisse sind. Aber bisher kam nichts.«
»Gut. Ich übernehme.« Samson schiebt die feuchte Zeltplane beiseite und tritt ein.